20. bis 24. Juli 2017, Salavas, bei Chloé
Salavas, Vallon Pont d’Arc. Abends mit dem Bus die Rhône überquert und nach Vallon Pont d’Arc. Chloé, die mich damals in Grignan eingeladen hatte, holte mich nun ab und wir kauften fürs Abendessen im Supermarkt ein. Dann ging es zu ihr ins Nachbardorf Salavas, in eine geräumige Wohnung in einem alten Haus mit Blick in den grünen Hof. Zwei Punkte wurden mir fast am Ende meiner Reise erfüllt: Ich kam zum ersten Mal in den Genuss einer typisch französischen Tarte, von Chloé zubereitet. Und selbst ohne Couchsurfing-Netzwerk schlief ich zum ersten Mal auf einer – sehr bequemen – Couch.
Bekannt und beliebt, die Einordnung: Die zwei Orte liegen in der Region Auvergne-Rhône-Alpes, im Departement Ardèche. Vallon zählt um die 2300 Einwohner, das Nachbardorf Salavas auf der anderen Seite des Flusses Ardèche bringt es auf 620 Bewohner. Spätestens hier fällt auf: Viele Departements sind nach Flüssen benannt.
Chloé hat Deutsch und Französisch studiert. Ihre Abschlussarbeit behandelte Heine. Sie war Fremdsprachenassistentin, unterrichtete Französisch als Fremdsprache. Als eine Reisende kam sie viel herum: in Düsseldorf Erasmus-Studium, in Regensburg Dozentin an der Uni, in Ungarn Lehrerin, in Paris ein Jahr gelebt, in Montélimar Praktikum in einer Buchhandlung, in Vallon Touristenführerin in der Höhle, in Grignan Praktikum in der Colophon-Druckerei (siehe Etappe 7) und aktuell Arbeit im dortigen Buchladen.
Frankreich und Deutschland. Gute Gespräche führten wir mal auf Französisch, mal auf Deutsch über uns, über Klischees und Realitäten unserer Landsleute, über Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Ihre Meinung zu Macron: Sie kenne seine Art und seine Pläne zu wenig. Was sie allerdings bisher verstanden habe, würde der neue Präsident Frankreich wie ein Unternehmen regieren. Den Unternehmern werde seine Regierungszeit sehr gefallen. Auch sie habe Macron widerwillig gewählt, um LePen zu verhindern. Sie findet die Haltung und Maßnahmen Deutschlands gegenüber Flüchtlingen sehr gut. Frankreich habe eine Null-Akzeptanz-Politik Einwanderern gegenüber. Sie halte Politiker und Franzosen im Allgemeinen für rassistisch. Es gebe kein Nachdenken und keine öffentliche Debatte über Alternativen. Die Nation der Menschenrechte spricht über so etwas Unangenehmes nicht. Sogar eine Quote für Asyl von politisch Verfolgten. In Ungarn, wo alle offen rechst sind, würde man die Meinung wenigstens offen aussprechen. Diese Haltung habe historische Gründe: Linke Überzeugungen seien gefährlich aus der Erfahrung der sozialistisch-kommunistischen Zeit heraus.
Europa. Für ihre Schwester (18 Jahre) sei es unbewusst selbstverständlich, einen Ausweis zu haben, mit dem sie in Europa überall hin reisen könne. Die östlichen EU-Länder hätten jetzt eine Anti-Haltung, sie seien aber auch noch nicht so lange Teil der Gemeinschaft. Das heißt, sie bräuchten Zeit, bis auch sie sich eingliedern werden.
Die Ardèche. Ausflug an der Ardèche entlang, im Dorf Aiguèzes Mittag gegessen, Baden und Faulenzen an einer Stelle, an der die Schlucht steil ist, der Fluss tief liegt, die Kalksteinwände hoch aufragen, grün bewachsen, Pont d’Arc angeschaut, einen beeindruckenden Mäander gesehen … Hiervon würde es wunderhübsche Bilder geben, wenn ich nicht vergessen hätte, den Akku aufzuladen. Die Ardèche hat sich wahrscheinlich Millionen Jahre lang in den Stein gegraben. Viele Höhlen gibt es hier, Grotten, Zeichen von Menschen, die vor über 30 000 Jahren in den Höhlen lebten, schliefen, kochten, Kulte hielten, Überreste auch von wilden Tieren.
Müßiggang. Bei Chloé herumgehangen (sie arbeitete übers Wochenende in Grignan), Sachen gewaschen. Kleiner Ausflug zum Strand, Beine in die Ardèche gestellt, inklusive Mallorca-Feeling. Auf dem Rückweg Halt in einer Straßenbar, einen Pastis hineingequält, denn das Getränk gehörte zum Provence-Pflichtprogramm. Mich vorzüglich gelangweilt in der Hitze eines späten Nachmittags. Durch Vallon tagsüber und Salavas nächtens gebummelt. Morgens auf dem regionalen Markt Gemüse, Lebensmittel und ein Geschenk für Chloé besorgt. Wieder viel Eis gegessen. Während ich das Eis schlemmerte, blickte ich auf das Karussell am Marktplatz. Diese altmodischen Gefährte gehören zum Inventar fast jedes etwas größeren Ortes in Frankreich. Das Flugzeug war bei den Fahrgästen erstaunlicherweise die beliebteste Sitzgelegenheit. Daraufhin eine Packung Himbeersorbet gekauft.


Doch auch ein bisschen Kultur. In der versteckten kleinen Galerie du Bourdaric unterhielt ich mich mit dem Galeristen. Er initiierte übergreifende Kunstprojekte von Bildenden Künstlern und Schriftstellern. Er stellte auch Einzelkünstler, Maler aus. Eines seiner letzten Projekte hatte Gedichte von Michel Houellebecq und einer Künstlerin zum Thema. Sie illustrierte seine Gedichte, daraus schuf der Galerist und Herausgeber ein dünnes Buch. Das Stück zu 2000 Euro. Houellebecqs Romane kämen besser bei deutschen als bei französischen Lesern an. Zu dieser Zeit würden sich viele junge Künstler, auch in Deutschland, dem Sujet Landschaft widmen. Zeitgenössische Landschaften nannte er sie. Mit beispielsweise einem grauen Viereck mitten auf dem Bild. Für die Kunst gelten schwierige Zeiten, denn in Frankreich kaufe niemand Kunst, im Gegensatz zu beispielsweise den USA und Deutschland. Die Kunst im Privatraum sei wenig geschätzt. Ich solle mich melden, wenn ich (die ich aus der Verlagsbranche komme und in Berlin lebe) Ideen für Buchprojekte hätte oder Kontakte zu interessanten Künstlern.

Lektion über französisches Arbeits- und Provinzleben. Ich wollte eigentlich für uns kochen, damit wir abends gemeinsam hätten essen können. Aber es kam anders. Wir wurden von einer ihrer Ex-Kolleginnen und Freundin (aus der Höhlen-Nachbildung) zum Apéro eingeladen. Das fast schon Anwesen zu nennende Haus lag versteckt zwischen Weinfeldern. Die Hausherrin war in ihren Sechzigern, die anderen Freundinnen in Chloés Alter (um die 30), oder jünger. Wir unterhielten uns über Arbeitsbedingungen in Frankreich und Deutschland. Vor allem mit der Deutschen Charlotte, die vor sechs Jahren nach Frankreich kam. Sie war sehr unzufrieden: Als Ausländer sei es sehr schwer, einen guten, unbefristeten Arbeitsvertrag zu bekommen. Verträge zwischen sechs und neun Monaten, die Verlängerung immer ungewiss. Selbst als Lehrer sei man als Ausländer eine Art Honorarkraft, die nicht in den zwei-monatigen Ferien bezahlt wird und folglich auch nicht staatlich versichert ist. Selbst wenn man ausgezeichnet französisch spricht, kann es sein, dass man wegen des Akzents nicht eingestellt wird. Zu Einstellungskriterien in Frankreich und Deutschland meinte Chloé, in Frankreich sei das Diplom oder ein Zertifikat das Ausschlaggebende, in Deutschland seien Arbeitgeber in diesem Punkt weniger eingeengt. Sie möchte gern eine Ausbildung als Buchhändlerin machen, weil ihr Traum eine eigene Buchhandlung ist. Es gebe jedoch für sie zurzeit keine Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen, da sie aufgrund ihres Alters die Buchhandlung zu viel Kosten würde (der Mindestlohn 1200 Euro, eine jüngere Auszubildende nur 600 Euro).
Dann brach unser Gespräch ab, weil es einen Unfall gab. Der Ex-Mann der Gastgeberin, ein Engländer, fuhr in voller Fahrt mit dem Fahrrad an eine Hausmauer. Er lag bewusstlos auf der Seite, das Gesicht zur Mauer, der Boden voller Blut. Höchste Aufregung, Schockzustand. Die älteren Frauen sahen sich schnell im Stande zu helfen. Sie kannten ihn und sprachen englisch. Eine jüngere, beherzte, redselige Frau klärte uns über den speziellen Gesundheitszustand des Verunfallten auf: Er habe Parkinson und nehme starke Medikamente, die seinen Charakter, seine Psyche und sein Verhalten stark beeinflussen und verändern. Er habe Halluzinationen, Wutausbrüche, Desorientierung, wie auch an jenem Tag, schon kurz zuvor bei einem Freund. Die Ex-Frau fühlte sich verantwortlich und schuldig für diesen Unfall, und allgemein sah sie es als ihre Pflicht, sich um ihn zu kümmern. Alle versuchten mit Nachdruck, ihr die Schuldgefühle auszureden. Ein interessanter Fakt: Die gerufene freiwillige Feuerwehr (entspricht unseren Rettungsassistenten) brauchte 45 Minuten, da der Fahrer den Ort falsch verstanden hatte und an einen anderen, ziemlich weit entfernten Ort gefahren war. Also wurde ein zweiter Wagen losgeschickt. Problem: Die Ambulanz-Einsätze werden zentral von Lyon aus gesteuert. Das bedeutet, sie geben die Infos an Orte nahe des Unfalles weiter, haben aber keine Ahnung von der Umgebung. Das nächste Krankenhaus lag in Aubenas rund anderthalb Stunden entfernt. Wenn dir auf dem französischen Land etwas passiert, dann Gnade dir Gott.
Zurück zuhause, nachts, genehmigten wir uns auf den Schreck einen Schluck Wein. Chloé würde in solchen Situationen ganz ruhig und klar werden. Die anderen hätten zu sehr auf die Gastgeberin eingeredet. Die erste Hilfe bestand im übrigen aus: stabiler Seitenlage, Blut aus dem Mund entfernen, mit Alu-Decke zudecken, beruhigen, mit demjenigen sprechen. Ich konnte lediglich das Rad aus dem verhakten Beinen ziehen und beiseite stellen. Von der stabilen Seitenlage wusste ich nur noch die Hälfte. Er röchelte, als ich mir zu Beginn ein Bild machte. Chloé meinte, es sei ein natürlicher Reflex zu helfen. Wenn man allein gewesen wäre, hätte man automatisch das Richtige getan.
Fazit: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. So aufregend endete meine Reise durch die Provinz. Zum Abschied auf der Treppe in der Sonne ein Morgenkaffee mit Chloé – der Zufall und zwei gute Entscheidungen hatten uns glücklicherweise zusammengebracht – und dann ab in die große Stadt und zu Jana.