Epilog

Bald keine Musik mehr, im Gegenteil nur Licht. Gleißende Wärme in den Augen, im Gehirn, im Herzen, im Körper. Die Natur hat die Musik ersetzt. Sorgenvoll ist mir hier ein Fremdwort. Die Leichtigkeit generiert alle zwei Tage ein Schuldgefühl. Dort arbeiten sie, für sich, für andere, für die Gemeinschaft. Hier sitze ich und ruhe und genieße und schreite die Langeweile aus. Bis die Füße weh tun. Dann klage ich. Und dann sagt das Schuldgefühl: Du hast kein Recht auf Klage. Zur Welt zu kommen, ist eine recht schwere Last. Man braucht Kraft, es bis zum Ende durchzuhalten. Der Schatz der Morgendämmerung ist die Weisheit. Sie sehen traurig aus. Gibt es einen Grund? Ich suche einen Ort. Einen Platz. Wie soll man ohne Licht leben? Einer braucht einen Ort, um glücklich zu werden. Manche werden geliebt und sind trotzdem unglücklich. Die Landschaft ist wie überbelichtet. Über und über und über. Am Abend kommen die Schatten und die Sicht wird tiefer. Man blickt hinein. In die Landschaft. In sich. Es wird klarer in der (eigenen) Welt.

(mit Zitaten aus dem FilmLa sapienza“ von Eugène Green)

 

Devant l’atelier du typographe, Grignan

Le son d’une machine qui imprime

poussant en temps

au rythme martelant avec

Le rythme d’une cigale

chantant comme une crécelle

Le rythme de trois chiens haletants

Le rythme de gens ralentirants par la chaleur

Le rythme de cloches d’autrefois

Mais cela est la mesure

d’aujourd’hui, d’ici.

Etappe 10 – Marseille

24. bis 29. Juli 2017, Marseille, Hotel, mit Jana

Mit dem Bus nach Avignon und mit dem Zug nach Marseille, wo Jana schon am Bahnhof wartete. Wir hießen unseren gemeinsamen Urlaub Willkommen: am Vieux-Port (Alter Hafen) mit teurem Kaffee und später in bester Laune am MuCem, dem modernen Mittelmeer-Kulturen-Museum (dessen Fassade unverständlicherweise nicht Janas volle Begeisterung bekam) mit typischem Picknick und Weinchen und langen Gesprächen.

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Das Bett in unserem „modernen“ Hotel war ein kleiner Albtraum (ja, ich habe das Hotel ausgesucht), klein und schwankend wie ein Wasserbett, indem man immer daran Teil hatte, sobald der andere sich bewegte. Die Laune war am nächsten Tag entsprechend gedämpft. An der Streitkultur kann jedoch gearbeitet werden – denn wir hatten keine. Wir grummelten so lange schweigend vor uns hin, bis sich das Grummeln in Luft auflöste. In diesem Falle vom Winde verweht wurde. Mal wurde die eine vom ersehnten Strand-Entspannen aufgescheucht, mal verweigerte die andere jeden Museumsbesuch. So nervten wir uns abwechselnd. Gleichberechtigt immerhin. Auch beliebt war das ewig lange Irren durch die heiße, große Stadt, um ein Plätzchen zum Picknicken zu finden. Bänke und Parks sind der Franzosen Sache nicht. Was wäre ein Urlaub ohne Ärgernis – auf alle Fälle langweilig. Also was uns nicht umhaut, macht uns nur stärker.

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Wir wurden jeden Tag, wenn wir gegen Mittag unser Zimmer verließen und den Schlüssel abgeben mussten, von den Hotelbesitzern gefragt, ob wir gut geschlafen hätten. Nach ein paar Tagen wäre ich ihnen um ein Haar an die Kehle gesprungen. Unser Frühstück teilten wir auf. Jana nahm ihres auf dem Zimmer mit den Zutaten vom Vorabend zu sich, inklusive Kaffee aus dem Hotel-Automaten. Mein Tag begann mit Cappuccino gegen 12 Uhr in einem Café.

Im Gegenwind bummelten wir tapfer durch das Viertel Le panier, kämpften uns an den Docks entlang, um einen Blick auf den großen Hafen zu werfen. Die alten Hafengebäude wurden als high-class Shopping-Meile oder Konzerthalle genutzt.

Drei Tage begleitete uns auf unseren Ausflügen ein sehr heftiger Mistral (40km/h, mit Böen bis 70 km/h). Wir waren erschöpft. Einmal knickten wir wegen des Windes das Picknick und retteten uns in eine Pizzeria. Dort konnten wir uns gerade noch die Vorspeisen leisten. Die sättigten uns und waren ziemlich schmackhaft. Manchmal braucht es nur die kleinen Dinge, um zufrieden zu sein. Jana suchte mit ihrem modernen Device das nächste Spazierziel aus. So im Viertel um den Cours Julien gebummelt, ein lebhafter, ovaler Platz mit vielen Cafés und Restaurants, wo sich Einheimische, Studenten und Touristen tummelten. Man hatte immer was zum Schauen. So wurde er auch Stammplatz für unseren Morgenkaffee gegen Mittag (Janas zweiter, mein erster).

Es war schön, Hitze, Stadtansichten, Bummeln, Blick aufs Meer, Zikadengeschnarr zu zweit zu erleben. Gemeinsam mehr oder minder nette Anmachen abzuwehren oder zu ignorieren. Hier und da ein Kompliment oder ein kurzer Small Talk ist das Schlechteste nicht. Jana kam nach ihrem Geschmack etwas zu gut an mit den blauen Augen und ihrer ganzen Erscheinung. Aufdringliche Blicke. Durchquerten afrikanische, arabische, wohlhabende, alternative Viertel. Viele Obdachlose und Arme. Bunt, wirbelig, laut, energisch, verschiedene Gerüche, Graffitis. Ich mag das abwechslungsreiche Straßenbild und die Stimmungen sehr. Doch es ist auch befremdlich, durch manche Straßen zu laufen (zumal mit einem sommerlichen Trägerkleid), wo fast ausschließlich Männer stehen und Frauen zumindest in dieser Gemeinschaft des öffentlichen Raumes kaum eine Rolle spielen. Wahrscheinlich lesen sie ihren Männern zuhause die Leviten, aber das bleibt einem verborgen. Man kann nur spekulieren. Am alten Hafen verkaufen fliegende Händler ab der Abenddämmerung bunten, blinkenden Schnulli, Tee und Snacks. Kleine Spektakel, Akrobatik, arabische Lieder.

Kulturelles Highlight sollte ein Kinobesuch werden. Im Land der Filmkultur. Ein bemerkenswert schlechter Film, aber kein französischer. Wir konnten uns nach einer halben Stunde gequälter Langeweile und nach verzweifeltem Warten, ob irgendjemand irgendetwas halbwegs Intelligentes oder Interessantes von sich gibt, vor Lachen kaum noch halten. Ich schmiss das Handtuch, wartete draußen – und langweilte mich dort. Jana hielt heldenhaft durch.

Cassis. Ort an der Côte d’Azur. Wir wandeln in Südfrankreichs subtropischer Klimazone entlang der Mittelmeerküste, laufen an subtropischen Hartlaubgewächsen vorbei. (Nicht sehr subtil, aber irgendwo musste es untergebracht werden.) Zikaden begrüßen uns. Und Massen von Touristen. Nettes Städtchen mit Stadtstrand. Wir saßen hinter allen und schauten aufs Meer von Menschen und aufs weite Blau. Picknick. Träge, langsam, gelassen.

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Zur Zeitungslektüre, wieder die La Provence für Marseille, vom 29. Juli. Man führte einige Verdächtige vor Gericht, die einige der verheerenden Waldbrände entfacht hatten. Der alte und populäre Seebär Olivier de Kersauson berichtete von seinen Segeltörns, vom Meer und seinem Marseille, ein poetischer und bisweilen sexistischer Seemann (aber das würde er nur spielen, wie der Journalist versichert), ist Rekordsegler, konzipierte einen neuen Bootstyp, schreibt Bestseller. Einem Chirurgen gelingt es, den abgetrennten Unterarm eines Arbeiters wieder anzunähen. Eine 15-Jährige stirbt an Masern, wobei wir wieder bei der Impfdebatte wären. Ein brutaler Raubüberfall auf eine 70-Jährige. In Marseille lag der Kandidat für den Front national hinter Macrons neuer Partei LREM und der (rechts-)konservativen UMP. Die Gay Pride fand auf der Haupteinkaufsstraße Marseilles statt. Leidenschaftliche Berichte vom Wettkampf im Jeu Provencal, das eine Art Boule-Spiel ist. Ans Licht kam, dass die Arbeitsministerin Muriel Pénicaud als frühere Chefin der Personalabteilung des Konzerns Danone einen Gewinn durch Aktienverkauf von einer Million Euro für sich herausholte, während der Konzern zur selben Zeit 900 Mitarbeiter entließ. Das sei legal, aber recht schlecht für die öffentliche Moral. Zynischer Finanzmarkt und skrupellose Politikerin.

Der letzte Abend endete bei einem ausladendem Abendbrot unter freiem Himmel mit Tabouleh und Hummus von einem klitzkleinen Laden eines libanesischen Ehepaars und Wein an einem Plätzchen, von dem man noch das Meer sehen konnte. Der Abschied von einer mal gemütlichen, mal anstrengenden und gerade darum guten Woche zu zweit in Marseille.

Etappe 9 – Salavas und Vallon Pont d’Arc

20. bis 24. Juli 2017, Salavas, bei Chloé

Salavas, Vallon Pont d’Arc. Abends mit dem Bus die Rhône überquert und nach Vallon Pont d’Arc. Chloé, die mich damals in Grignan eingeladen hatte, holte mich nun ab und wir kauften fürs Abendessen im Supermarkt ein. Dann ging es zu ihr ins Nachbardorf Salavas, in eine geräumige Wohnung in einem alten Haus mit Blick in den grünen Hof. Zwei Punkte wurden mir fast am Ende meiner Reise erfüllt: Ich kam zum ersten Mal in den Genuss einer typisch französischen Tarte, von Chloé zubereitet. Und selbst ohne Couchsurfing-Netzwerk schlief ich zum ersten Mal auf einer – sehr bequemen – Couch.

Bekannt und beliebt, die Einordnung: Die zwei Orte liegen in der Region Auvergne-Rhône-Alpes, im Departement Ardèche. Vallon zählt um die 2300 Einwohner, das Nachbardorf Salavas auf der anderen Seite des Flusses Ardèche bringt es auf 620 Bewohner. Spätestens hier fällt auf: Viele Departements sind nach Flüssen benannt.

Chloé hat Deutsch und Französisch studiert. Ihre Abschlussarbeit behandelte Heine. Sie war Fremdsprachenassistentin, unterrichtete Französisch als Fremdsprache. Als eine Reisende kam sie viel herum: in Düsseldorf Erasmus-Studium, in Regensburg Dozentin an der Uni, in Ungarn Lehrerin, in Paris ein Jahr gelebt, in Montélimar Praktikum in einer Buchhandlung, in Vallon Touristenführerin in der Höhle, in Grignan Praktikum in der Colophon-Druckerei (siehe Etappe 7) und aktuell Arbeit im dortigen Buchladen.

Frankreich und Deutschland. Gute Gespräche führten wir mal auf Französisch, mal auf Deutsch über uns, über Klischees und Realitäten unserer Landsleute, über Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Ihre Meinung zu Macron: Sie kenne seine Art und seine Pläne zu wenig. Was sie allerdings bisher verstanden habe, würde der neue Präsident Frankreich wie ein Unternehmen regieren. Den Unternehmern werde seine Regierungszeit sehr gefallen. Auch sie habe Macron widerwillig gewählt, um LePen zu verhindern. Sie findet die Haltung und Maßnahmen Deutschlands gegenüber Flüchtlingen sehr gut. Frankreich habe eine Null-Akzeptanz-Politik Einwanderern gegenüber. Sie halte Politiker und Franzosen im Allgemeinen für rassistisch. Es gebe kein Nachdenken und keine öffentliche Debatte über Alternativen. Die Nation der Menschenrechte spricht über so etwas Unangenehmes nicht. Sogar eine Quote für Asyl von politisch Verfolgten. In Ungarn, wo alle offen rechst sind, würde man die Meinung wenigstens offen aussprechen. Diese Haltung habe historische Gründe: Linke Überzeugungen seien gefährlich aus der Erfahrung der sozialistisch-kommunistischen Zeit heraus.

Europa. Für ihre Schwester (18 Jahre) sei es unbewusst selbstverständlich, einen Ausweis zu haben, mit dem sie in Europa überall hin reisen könne. Die östlichen EU-Länder hätten jetzt eine Anti-Haltung, sie seien aber auch noch nicht so lange Teil der Gemeinschaft. Das heißt, sie bräuchten Zeit, bis auch sie sich eingliedern werden.

Die Ardèche. Ausflug an der Ardèche entlang, im Dorf Aiguèzes Mittag gegessen, Baden und Faulenzen an einer Stelle, an der die Schlucht steil ist, der Fluss tief liegt, die Kalksteinwände hoch aufragen, grün bewachsen, Pont d’Arc angeschaut, einen beeindruckenden Mäander gesehen … Hiervon würde es wunderhübsche Bilder geben, wenn ich nicht vergessen hätte, den Akku aufzuladen. Die Ardèche hat sich wahrscheinlich Millionen Jahre lang in den Stein gegraben. Viele Höhlen gibt es hier, Grotten, Zeichen von Menschen, die vor über 30 000 Jahren in den Höhlen lebten, schliefen, kochten, Kulte hielten, Überreste auch von wilden Tieren.

Müßiggang. Bei Chloé herumgehangen (sie arbeitete übers Wochenende in Grignan), Sachen gewaschen. Kleiner Ausflug zum Strand, Beine in die Ardèche gestellt, inklusive Mallorca-Feeling. Auf dem Rückweg Halt in einer Straßenbar, einen Pastis hineingequält, denn das Getränk gehörte zum Provence-Pflichtprogramm. Mich vorzüglich gelangweilt in der Hitze eines späten Nachmittags. Durch Vallon tagsüber und Salavas nächtens gebummelt. Morgens auf dem regionalen Markt Gemüse, Lebensmittel und ein Geschenk für Chloé besorgt. Wieder viel Eis gegessen. Während ich das Eis schlemmerte, blickte ich auf das Karussell am Marktplatz. Diese altmodischen Gefährte gehören zum Inventar fast jedes etwas größeren Ortes in Frankreich. Das Flugzeug war bei den Fahrgästen erstaunlicherweise die beliebteste Sitzgelegenheit. Daraufhin eine Packung Himbeersorbet gekauft.

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Doch auch ein bisschen Kultur. In der versteckten kleinen Galerie du Bourdaric unterhielt ich mich mit dem Galeristen. Er initiierte übergreifende Kunstprojekte von Bildenden Künstlern und Schriftstellern. Er stellte auch Einzelkünstler, Maler aus. Eines seiner letzten Projekte hatte Gedichte von Michel Houellebecq und einer Künstlerin zum Thema. Sie illustrierte seine Gedichte, daraus schuf der Galerist und Herausgeber ein dünnes Buch. Das Stück zu 2000 Euro. Houellebecqs Romane kämen besser bei deutschen als bei französischen Lesern an. Zu dieser Zeit würden sich viele junge Künstler, auch in Deutschland, dem Sujet Landschaft widmen. Zeitgenössische Landschaften nannte er sie. Mit beispielsweise einem grauen Viereck mitten auf dem Bild. Für die Kunst gelten schwierige Zeiten, denn in Frankreich kaufe niemand Kunst, im Gegensatz zu beispielsweise den USA und Deutschland. Die Kunst im Privatraum sei wenig geschätzt. Ich solle mich melden, wenn ich (die ich aus der Verlagsbranche komme und in Berlin lebe) Ideen für Buchprojekte hätte oder Kontakte zu interessanten Künstlern.

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Lektion über französisches Arbeits- und Provinzleben. Ich wollte eigentlich für uns kochen, damit wir abends gemeinsam hätten essen können. Aber es kam anders. Wir wurden von einer ihrer Ex-Kolleginnen und Freundin (aus der Höhlen-Nachbildung) zum Apéro eingeladen. Das fast schon Anwesen zu nennende Haus lag versteckt zwischen Weinfeldern. Die Hausherrin war in ihren Sechzigern, die anderen Freundinnen in Chloés Alter (um die 30), oder jünger. Wir unterhielten uns über Arbeitsbedingungen in Frankreich und Deutschland. Vor allem mit der Deutschen Charlotte, die vor sechs Jahren nach Frankreich kam. Sie war sehr unzufrieden: Als Ausländer sei es sehr schwer, einen guten, unbefristeten Arbeitsvertrag zu bekommen. Verträge zwischen sechs und neun Monaten, die Verlängerung immer ungewiss. Selbst als Lehrer sei man als Ausländer eine Art Honorarkraft, die nicht in den zwei-monatigen Ferien bezahlt wird und folglich auch nicht staatlich versichert ist. Selbst wenn man ausgezeichnet französisch spricht, kann es sein, dass man wegen des Akzents nicht eingestellt wird. Zu Einstellungskriterien in Frankreich und Deutschland meinte Chloé, in Frankreich sei das Diplom oder ein Zertifikat das Ausschlaggebende, in Deutschland seien Arbeitgeber in diesem Punkt weniger eingeengt. Sie möchte gern eine Ausbildung als Buchhändlerin machen, weil ihr Traum eine eigene Buchhandlung ist. Es gebe jedoch für sie zurzeit keine Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen, da sie aufgrund ihres Alters die Buchhandlung zu viel Kosten würde (der Mindestlohn 1200 Euro, eine jüngere Auszubildende nur 600 Euro).

Dann brach unser Gespräch ab, weil es einen Unfall gab. Der Ex-Mann der Gastgeberin, ein Engländer, fuhr in voller Fahrt mit dem Fahrrad an eine Hausmauer. Er lag bewusstlos auf der Seite, das Gesicht zur Mauer, der Boden voller Blut. Höchste Aufregung, Schockzustand. Die älteren Frauen sahen sich schnell im Stande zu helfen. Sie kannten ihn und sprachen englisch. Eine jüngere, beherzte, redselige Frau klärte uns über den speziellen Gesundheitszustand des Verunfallten auf: Er habe Parkinson und nehme starke Medikamente, die seinen Charakter, seine Psyche und sein Verhalten stark beeinflussen und verändern. Er habe Halluzinationen, Wutausbrüche, Desorientierung, wie auch an jenem Tag, schon kurz zuvor bei einem Freund. Die Ex-Frau fühlte sich verantwortlich und schuldig für diesen Unfall, und allgemein sah sie es als ihre Pflicht, sich um ihn zu kümmern. Alle versuchten mit Nachdruck, ihr die Schuldgefühle auszureden. Ein interessanter Fakt: Die gerufene freiwillige Feuerwehr (entspricht unseren Rettungsassistenten) brauchte 45 Minuten, da der Fahrer den Ort falsch verstanden hatte und an einen anderen, ziemlich weit entfernten Ort gefahren war. Also wurde ein zweiter Wagen losgeschickt. Problem: Die Ambulanz-Einsätze werden zentral von Lyon aus gesteuert. Das bedeutet, sie geben die Infos an Orte nahe des Unfalles weiter, haben aber keine Ahnung von der Umgebung. Das nächste Krankenhaus lag in Aubenas rund anderthalb Stunden entfernt. Wenn dir auf dem französischen Land etwas passiert, dann Gnade dir Gott.

Zurück zuhause, nachts, genehmigten wir uns auf den Schreck einen Schluck Wein. Chloé würde in solchen Situationen ganz ruhig und klar werden. Die anderen hätten zu sehr auf die Gastgeberin eingeredet. Die erste Hilfe bestand im übrigen aus: stabiler Seitenlage, Blut aus dem Mund entfernen, mit Alu-Decke zudecken, beruhigen, mit demjenigen sprechen. Ich konnte lediglich das Rad aus dem verhakten Beinen ziehen und beiseite stellen. Von der stabilen Seitenlage wusste ich nur noch die Hälfte. Er röchelte, als ich mir zu Beginn ein Bild machte. Chloé meinte, es sei ein natürlicher Reflex zu helfen. Wenn man allein gewesen wäre, hätte man automatisch das Richtige getan.

Fazit: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. So aufregend endete meine Reise durch die Provinz. Zum Abschied auf der Treppe in der Sonne ein Morgenkaffee mit Chloé – der Zufall und zwei gute Entscheidungen hatten uns glücklicherweise zusammengebracht – und dann ab in die große Stadt und zu Jana.

Etappe 8 – Montélimar II

17. bis 20. Juli 2017, Montélimar, bei Catherine

Das Angebot erleichtert annehmend weilte ich ein zweites Mal bei Catherine. Ich fand keinen anderen Couchsurfer. Ob es nun an mir lag oder an den Umständen von Sommer, Ferien und Theaterfestival, mochte ich nicht entscheiden. Jedenfalls war es eine freudige Fügung.

Da Catherine unterwegs war, holte ich mir den Hausschlüssel bei ihrer Mutter ab, die um die Ecke wohnte. Ich brachte Törtchen vom Patisseur mit. Madame F. stammte aus dem Savoyen, einer Berglandschaft nahe der italienischen Grenze. Als sie Kind war, war der Dialekt selbstverständliche Verkehrssprache. Sie sprach von patois. Nach meiner Recherche müsste es ein Dialekt aus dem Provenzalischen, auch Arpitanisch genannt, gewesen sein. Jedes Dorf hatte seine eigenen Mundart-Wörter, die auch nur die Dorfbewohner verstanden. Sie erinnerte sich an zwei Worte: pomme de terre – tifère (dt.: Kartoffel), mais – troqui (dt. Mais). Es solle ein wenig dem Deutschen geähnelt haben, wohl aber auch unter Einfluss der italienischen Sprache gestanden haben. Ihre Eltern stammten aus dem Ort Le Châtel und hätten erst mit sechs Jahren französisch in der Schule gelernt. Vorher sprach man nur Dialekt, etwa um 1910. Heute spreche es keiner mehr. Der Dialekt gehe verloren. Madame F. besitzt noch eine Kassette, auf der die Menschen ihres Dorfes zu hören sind, patois sprechend. Es wärme ihr das Herz, wenn sie sie hört. Nebenbei muss ich bemerken, dass die über 80-jährige Dame recht modern war. Sie ließ sich von ihren Kindern und Enkeln die Benutzung von Smartphone und Tablet erklären und ging damit um. Ganz zufrieden war sie nicht, aber es gebe ihr eine gewisse Sicherheit, immer ihr Mobiltelefon dabeizuhaben. Schwer krank genieße die Zeit, die ihr bleibt, hat einen vollen Terminkalender, unter anderem mit regelmäßigen Tarot-Spiel und Karate-Unterricht (sic!). Außerdem hatte sie im Rentenalter eine Entscheidung getroffen, wie sie wohl nicht viele ihrer Generation getroffen hätten.

Ein langsamer Tag ohne Ziel. Viel mit Catherine unterhalten. Beim Salat-Zubereiten Amy Winehouse gehört. Fröhlich. Catherine regte sich wieder über Macron und seine Scheinheiligkeit auf. Ein Dauerbrenner. Seine Machtdemonstration gegenüber dem ranghöchsten General, der daraufhin zurücktrat. Er sei clever wie boshaft. Für Konzerne und Pharmaindustrie mache er Gesetze. Sonst ändere er wenig: Es gab 70 Anträge auf Gesetzesänderungen, wovon er bisher keinen einzigen umgesetzt habe. Aus ihrer Psychotherapie-Praxis: Sie vergegenwärtigte mir Freuds Theorie über Eltern und Kinder, die ich mit Interesse und etwas mulmigen Gefühl zur Kenntnis nahm. Sehr persönliche Dinge von sich als junger Frau und auch ihrem Sohn Paul erzählt. Sie erinnerte sich, mit welcher Enttäuschung sie auf ihr zweites gerade geborenes Kind schaute. Er wog schon vier Kilo wie ein zwei-monatiges Baby. Sie hatte das Gefühl, man habe ihr die zwei ersten Monate mit ihrem Säugling genommen. Ihr Mann wollte lieber ein zweites Mädchen. Laut ihr wollten Kinder stets ihre Eltern beschützen und ihnen Gutes tun. Kinder fühlten sich oft verantwortlich, wenn die Eltern böse oder verärgert sind oder sich streiten.

Schon bei meinem ersten Besuch sprach Catherine begeistert vom Theater-Festival in Avignon. Sie sehe sich jedes Jahr mehrere Stücke an. Grundlage für die Auswahl ist das offizielle Programmheft dick wie ein Telefonbuch (ältere unter den Lesern werden sich erinnern). Wahrlich eine Qual, doch sie solle sich lohnen. So kam ich nun zum Zeitpunkt ihres zweiten Tagesausflugs – und ich fuhr mit. Wir sahen uns gemeinsam ein Stück mit dem Namen A an. A stand für Anticipation, was Vorwegnahme bedeutet. Eine Komödie über die Schwierigkeit, zur Liebe zu finden. Die männliche Hauptfigur lebte im Jetzt und hatte keinen blassen Schimmer, was wohl am nächsten in allen möglichen Situationen und in seinem Leben allgemein passieren wird. Die Protagonistin lebte dagegen ständig in der Zukunft. Sie malte sich in jedem Moment aus, wie es gleich weiter gehen würde. Plante, nahm vorweg, und dabei auf hohem Stresslevel. Beide pathologischen Züge hatten natürlich was mit den Eltern und deren Beziehung zu ihren Kindern zu tun. Schließlich fanden die beiden doch zueinander, weil sie sich gegenseitig etwas vom anderen annahmen.

Gut unterhalten machte ich mich danach auf eine Tour durch die Stadt. Catherine sah sich derweil noch drei weitere Stücke an. Auf den Straßen trafen sich unzählige Besucher und werbende Theaterleute, die in ihnen potentielle Theaterzuschauer sahen. So bekam man alle fünf Minuten einen Flyer in die Hand gedrückt, mit einer kurzen Erklärung, warum man in welches Stück gehen müsse. Diese teilweise sehr fantasievoll verkleideten lebenden Werbeanzeigen waren meist selbst Schauspieler für das gerade beworbene Stück. Denn es herrschte eine wahnsinnige Konkurrenz. In rund hundert Spielstätten liefen von morgens bis abends stündlich Schauspiele aller Art, vier Wochen lang. Jeder freie Fleck an Häuserwänden, Zäunen, Stromkästen war mit Plakaten zugehängt.

Dort wo die engen Straßen etwas breiter wurden oder ein kleiner Platz sich öffnete, spielten Straßenmusiker. In dieser vibrierenden Atmosphäre musste man nur schauen, das allein war Theater. Fahrradfahrer, ja, Menschen auf Rädern fielen auf und relativ viele Elektroautos. Hier schien Frankreich doch etwas fortschrittlicher als in den Kleinstädten, die ich bisher gesehen hatte. Trotzdem sind wie im übrigen Frankreich Dosengetränke noch an der Tagesordnung.

 

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Den Papstpalast umrundete ich lediglich, das musste reichen. Einen nicht unerheblichen Teil seiner Stadtgeschichte, im 14. Jahrhundert, war Avignon Sitz des Oberhaupts der katholischen Kirche gewesen. Leider wurde ich wieder einmal auf meine vorschnellen, gemeinen Urteile zurückgeworfen. Denn während ich so herumbummelte und -lungerte, aß ich mindestens drei Eis. In Saint-Malo bei meinem Urlaub letzten Sommer schüttelte ich noch verächtlich den Kopf über all die dämlichen Eis und sonst was fressenden Touristen. Ähm, Hochmut kommt vor dem Fall. Mist. Schnell noch einen Wein gegen die (eigene) Schlechtigkeit und Schwäche, um zum krönenden Abschluss wieder gemeinsam mit Catherine ein Konzert zu hören. Sie war absoluter Fan von Lalala Napoli. Französisch-neapolitanische Kombo, dessen Sänger alte Weisen aus der italienischen Stadt modernisierte, verrockte. Einem brandete Energie sechs starker männlicher Musiker entgegen. Zwei Akkordeons, Gitarre, Kontrabass, Schlagzeug, Violine. Hässlich waren sie auch nicht. Insgesamt schönes Erlebnis.

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Bei unserem letzten Mittagessen ging es nochmals um Kinderpsychologie. Das Einschlafen sei eine Art Trennung von der Mutter sowie eine Art Tod oder Nicht-Bewusstsein. Das macht Angst. Um diese Angst zu überwinden, haben die meisten Kinder ein Lieblingskuscheltier, das ein Stück der Mutter und/oder des Vaters repräsentiere. Die Mutter ist physisch nicht da, aber das Kind lerne, dass sie in seinen Gedanken existiere. Vertrauen, Loslösen, Selbstständigkeit seien Eckpfeiler für eine gesunde Entwicklung. Kinder, die allein sein können (beim Spielen oder Einschlafen), hätten diese Fähigkeiten. Man kann zudem auf der Straße beobachten, dass Franzosen relativ streng mit ihren Kindern sind. Die französischen Kinder sind im Allgemeinen ziemlich brav und ruhig. Artig sitzen sie mit im Café und abends im Restaurant.

Etappe 7 – Grignan

13. bis 17. Juli 2017, Grignan, Gästezimmer

Am Lavendelfeld angekommen. Der Mistral presste mir den herben Duft in alle Poren. Das Violett wogte. Es ratschte und schnarrte und zwitscherte und rauschte und raschelte. Dazu ein tickendes Zirren. Ein Grashüpfer gesellte sich zu mir, machte es sich auf meiner Tasche bequem. Siesta vermutlich. Das Feld war von Steineichen und Pinien umstanden. Am anderen Ende glich das Ensemble von Bäumen und Sträuchern von weitem einem angelegten Garten. Links und rechts des Feldes lagen weitere kleinere Felder. Die Sonne brannte auf den Füßen. Haare wirbelten um den Kopf. Immer wieder brauste dieser dichte Geruch in meine Nase: Kräuter, Meer, Blütensüße, rauer Samt. Ein Hase raste vorbei. Bienen durchwühlten die blauen Halme, um später den Lavendelhonig zu produzieren, denkt der Mensch. Die Zikaden veranstalteten eine Kakophonie, deren Töne nach einer Weile sich zu einem Rhythmus vereinen. Harmonisieren sich zu einem Beat, dem Hitze-Beat. Kirchenglocken schlagen Drei.

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Die Gemäuer des Hauses, in dem ich Unterkunft bezog, stehen seit ungefähr 1500. Das Gästezimmer vibrierte vor Design und Dekor. Es war genauso groß wie meine Berliner Wohnung. Man schaute auf Berge und die Dächer der niedriger gelegenen Nachbarhäuser. Ich breitete die Arme aus und drehte mich und warf mich auf das ausladende Bett. Neben dem Schreibtisch stand noch eine Liege zum Lesen und Entspannen. Ich bin vollkommen in der Dekadenz angekommen. Das ganze Haus wurde renoviert. Drei Keller, einer davon im Frühstückshof freigelegt und durch eine Glasdecke von oben beschaubar, die anderen für den Wein. Véronique, die Dame des Hauses, ist Innenausstatterin, Alain, der Herr des Hauses, berät Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Ihr gemeinsames Unternehmen Pension ist ganz frisch, seit Mitte Juni empfangen sie Gäste. Sympathische Menschen, die sich gerne unterhalten.

Weil es hier so schön ist, darf der Kontrast nicht fehlen: Zu neutraler bis schlechter Laune trug relativ schlechter Schlaf bei. Geplagt von Alpträumen (inspiriert vom offengelegten Kellerhof) und von klappernden Fensterläden wegen des böigen Mistrals. Oder lag es an jener hoffentlich witzig gemeinten Bemerkung von Alain, mir die Unterschiede zwischen Hotel, chambre d’hôte und gîte erklärend, die Vorschriften seien für das Betreiben von Gästezimmern relativ lax? Im Gegensatz zu Hotels müsse er nicht die Trinkwasserqualität aus dem Hahn nachweisen – er könne das Wasser auch vergiften, von gesetzlichen Interesse sei das nicht. Haha. Außerdem kam mir zum ersten Mal ein fades Baguette unter. Ist das zu fassen? Eine köstliche, selbstgebackene Spezialität der Nord-Drôme bekam ich, quasi als Entschädigung, zum Frühstück kredenzt: Pogne, eine Art Brioche mit Orangenblütenaroma. In den nicht unumstrittenen Genuss eines anderen regionalen Gebäcks, dem Sacristain, einer Blätterteigstange mit Mandeln, kamen dann Jana und ich in Marseille.

 

 

 

 

 

 

Grignan. Eines der vielen geschichtslastigen, hyperpittoresken Dörfchen. Schloss mit tausendjähriger Geschichte. Die dort einige Jahre lebende und zu Berühmtheit gekommene Madame de Sévigné schrieb hunderte Briefe an ihre (bedauernswerte) Tochter und gab somit der Nachwelt ein Gesellschaftsportrait vom Frankreich
des 17. Jahrhunderts. Orgelkonzert in der Spätgotik- und Renaissance-Stiftskirche.
Den 1500 Einwohnern geht es mehr als gut. Viele Auswärtige haben sich hier ihren Alterssitz gesichert. Pariser machen nun auch Urlaub in der Provence, seit es eine TGV-Verbindung gibt. Zur Auflockerung und Rückkehr wenigstens ins 20. Jahrhundert schauen Bob Marley und Che von den Wänden der Pizzeria „Pizza du Château“.
Dabei wurden ich und die Pizza fast vom Winde verweht. Eines schönen Tages auf der Schlossterrasse stehend gähnten mir recht mickrige oder abgeerntete Lavendelfelder entgegen. Ironie der Geschichte. Man jagt etwas Bestimmtem hinterher … und findet etwas anderes.

 

 

 

 

 

 

Ich fand das Colophon und Chloé. Zu Chloé später. In die Welt des Colophon führte ein gusseisernes Tor. Dahinter ein Garten-Café, von dem aus man die Maschinen der Druck-Werkstatt hörte und auf den Buchladen schaute. Im Gebäude der kleinen Druckerei war ein Museum zur Buchdruckerkunst des 19. Jahrhunderts eingerichtet. Das alles einte der Verein Colophon auf charmante Weise: Autoren, Herstellung von Texten, Mahnung an die Redefreiheit, Bücher für den besonderen Geschmack, Vergangenheit und Gegenwart. Ich halte den Leser nicht mit trockenen Details auf. Nur soviel: Es war gut, zu erfahren oder aufzufrischen, wer oder was Johann Fust, Gutenberg, Garamond und die Linotype waren. Im Zuge der Bedeutung von Druckerpressen fand der Reformlehrer Celestin Freinet Erwähnung. Er führte ein freiere Pädagogik ein. Unter anderem nutzte er im Unterricht Druckerpressen, um die Texte der Schüler zu veröffentlichen. So entstanden erste Schülerzeitungen.

 

 

 

In der temporären Ausstellung klaute ich fotografisch ein paar Zeichnungen und Erste-Seiten der bekannten satirischen und politischen Zeitungen Charlie Hebdo und La Gueule ouverte. Moebius, Wolinski, Reiser, Cabu, Hara Kiri waren vertreten. Für mich und meine Zukunft entdeckte ich ihn schlussendlich selbst: den Sinn des Lebens. Ich möchte etwas mit Büchern machen. Ha! Am besten ich bleibe gleich für ein Praktikum beim Typographen. Ach, so einfach ist das manchmal. Als ich daraufhin zufrieden einen Kaffee im Café trank, traf ich Chloé. Sie erklärte mir zuvor die Arbeitsweise der Werkstatt und wir kamen ins Gespräch, auch über meine erfolglose Couchsurfer-Suche. Sie reichte mir einen kleinen Zettel mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer und bot mir an, bei ihr in der Ardèche zu bleiben. Einfach so.

 

 

 

 

Was gab die Zeitungslektüre her? Die Regionalzeitung La Provence für den Großraum Vaucluse besprach die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag am 14. Juli. Macron hatte Trump nach Paris eingeladen, um ihm das große, starke, kulturell reiche Frankreich zu präsentieren, mit pompösen Militär-Défilé. Zugleich stand die Militär-Parade unter keinem guten Stern, da es zuvor zwischen dem obersten General und Macron zu einem Eklat kam. Der Militär-Chef kritisierte Macron für seine groben Kürzungen des Verteidigungsetats. Daraufhin wies Macron diesen barsch in seine Grenzen und maßregelte ihn, Macron sei sein Chef. Der langjährige und sehr beliebte General zog die Konsequenz und quittierte den Dienst. Unter solchen Bedingungen könne er den Schutz der Bevölkerung nicht mehr verantworten. Gedenkfeier zum Attentat in Nizza vor einem Jahr, an dem viele Franzosen und Einwohner von Nizza wieder auf die Promenade kamen, um ihre Mitgefühl für Opfer und Angehörige sowie ihren Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen, Ausdruck zu verleihen. Außerdem gab es unzählige Brände aufgrund der monatelangen Hitzeperiode. Wieder Berichte und Rezensionen zu diversen Konzerten aus Klassik, Jazz und Rock, Theateraufführungen, Weinfesten.

Und eine nette journalistische Anekdote zum Schluss: Ein Artikel über die Freiwilligenarbeit einiger Jugendlicher bei der Restaurierung eines Amphitheaters am Mont Ventoux erwähnte anerkennend den Bürgermeister des Örtchens. Der Journalist bemerkte, dass der Bürgermeister seine Ansprache voller Gastfreundschaft und erfolgreich (!) auf Englisch hielt, da nicht alle der jungen Teilnehmer die Sprache Molières (!) sprachen. Tja, diese armen Tropfe, bleibt nur zu hoffen, dass ihnen die Sprache des Meisters während des Steineklopfens noch näher gebracht wurde.

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Etappe 6 – Grillon

10. bis 13. Juli 2017, Grillon, bei meiner Couchsurfing-Gastgeberin Magali

Von nun an alles Rolle rückwärts, auf derselben Strecke zurück in den Westen der Provence. Per Anhalter ging es mit einem ungewöhnlichen Pärchen und einem leidlich aggressiven Fahrer, der es für meinen Geschmack etwas zu eilig hatte, nach Nyons. Dort mit Salat und Kaffee Zeit tot geschlagen. Weiter mit dem Bus nach Valréas. Im Zustand völliger Erschöpfung von Hitze und Übermüdung hielt ich die Augen gerade noch offen, bis mich abends Magali abholte. Zuerst ging es zu ihrem Elternhaus, das zum Verkauf steht. – Magalis Vater lebte lange Zeit in Rosans. Er sprach provenzalisches Patois. So verbinden sich die Fragmente langsam. – Sie wässerte den ausgedorrten Garten. Danach wusch sie noch das Auto. Endlich zu ihr, Dusche, Abendessen mit Salat, Melone und Ziegenkäse. Wieder die Herzlichkeit eines Menschen, der einen einlädt, bei sich zu wohnen. Ich solle mich wie zuhause fühlen. Sie bot mir an, die nächste, ziemlich teure Unterkunft zu stornieren und bei ihr zu bleiben. Sie wollte mich zu ihrer Arbeit und zum Markt mitnehmen. Ich könne auch ein Rad fahren, das aber noch repariert werden müsse. Ihr jüngerer Sohn Adam (21 Jahre) lebte für einige Monate bei ihr. Meine Schlafstatt nahm ich auf dem Mezzanine im Küchen- und Wohnraum ein. Mauersegler umflogen abends das Haus. Die Fenster gingen nach Osten und Westen. Ein altes Haus mit hohen Zimmern. Im zweiten Stock ließen die Fenster Sicht auf ein Dächermosaik, den Balkon der Nachbarn und einen großen Baum.

 

 

 

Nach den täglichen Aufgaben Couchsurfing-Suche und Texten erkundete ich einen Nachmittag lang das Dorf. Hier leben nun um die 1700 Menschen. Wir sind übrigens im Departement Vaucluse. Die Gassen sind gesäumt von Häusern aus dem 17. Jahrhundert. Gegründet wurde der Ort im 11. Jahrhundert. Im ältesten Viertel, genannt Vialle, ließ man unter der Leitung eines angesehenen Architekten in den 1980ern die Altstadt restaurieren und einige Häuser zu sozialen Wohnungen umbauen. Und es gibt eine super moderne Bibliothek. Einige sagen, es sei fast unmöglich, eine Zikade zu sehen, andere meinen, sie hätten schon viele erblickt. Jedenfalls gelang es mir, eine zu erspähen und fotografisch festzuhalten. Erhebender Augenblick.

 

 

 

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Mit Magali und Adam nahm ich mal das Frühstück, mal Mittag oder Abendbrot zusammen ein. Die erste Französin auf meiner Reise, die nicht gerne kocht. Darum gebe es einfache Sachen, die nichtsdestotrotz schmeckten. Ihr Sohn kochte im Gegenteil ganz gerne. Nach seiner Hotelausbildung mit Spezialisierung auf Barmann in Marseille machte er seine ersten Berufserfahrungen in Amsterdam, Utrecht und Monaco. Hier in Südfrankreich arbeitete er den Sommer über in einer Fabrik, die Verpackungen aus Plastik herstellt. Er wirkte ziemlich zuversichtlich, lebenslustig, hilfsbereit, dabei trotzdem zurückhaltend. Macht Elektro-Musik, mag aber auch Soul und Jazziges. Und er erklärte gerne (auch die Welt).

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Die Mutter (51 Jahre) arbeitet als Wellness-Therapeutin, Vertreterin für Bio-Pflegeprodukte und als Masseurin im Wellness-Spa. Während eines Speed-Einkaufes im Bioladen und am Käsestand auf dem Markt im Nachbarort unterhielten wir uns über die Gegend. Die Leute würden hier zu wenig reisen, darum seien sie etwas engstirnig, konservativ, kleinkariert. Sie mochte die Menschen in Nyons (wo sie auch gelebt hatte). Sie seien offen, freundlich und immer zu einem Gruß bereit. Man käme leichter ins Gespräch, als etwa in Grillon. Magali hält wenig von Macron (Partei LREM La République en marche, dt.: Die Republik in Bewegung): Er führe das aus, was Wirtschaftskonzerne und Pharmaindustrie verlangten. Zu jener Zeit lief eine Petition gegen die Impfpflicht (elf Impfungen bei Neugeborenen), per Gesetz 2018 in Kraft treten soll. Regierung agiere wie ein Diktator, rigorose Umsetzungen ohne Kompromisse. Dieses autoritäre Regieren ist mehreren meiner Gesprächspartner übel aufgestoßen.

Adam verriet mir den Weg zu einem Flüsschen nahe des Hauses. Dort hätte ich meine Ruhe. Also ab in brütender Hitze zum Geheimort. Ein Flussbett aus rundgeschliffenen weißen Steinen. Das Wasser floss spärlich in einem Rinnsal und sammelte sich in wenigen Kuhlen, dank eines Dammes aus Baumstämmen, die Adam mit seinen Freunden gebaut hatte. Man konnte sich immerhin hineinlegen. Die Ufer waren von dichtem Grün und hohen Bäumen bestanden. Es rauschte, schnarrte und summte. Konzert aus Zikaden, Bienen und Vogelstimmen. Die Steine drückten durchs Handtuch. Die Vegetation legte ihren Schatten schützend über mich. So lag ich, mit Blick auf diesen lauten, stillen Ort. Die Zeit blieb stehen. Ich schloss die Augen und hörte die Stille musizieren. Umschlossen von Sommer. Leichtigkeit. Unendlich viel Raum und Zeit ohne Zweck. Manchmal legte ich mich in eine der Naturbadewannen, um mich abzukühlen, gemeinsam mit Libellen, Wasserläufern und schwarzen Schmetterlingen. Die Szenerie – ja, doch, ein weiteres Mal – wie in einem (anderen) französischen Film.

 

 

Etappe 5 – Saint-André-de-Rosans

6. bis 10. Juli 2017, Saint-André-de-Rosans, Gästezimmer

Reisetag. Diese Passage war die aufregendste (es sei mir erlaubt, diese Petitesse als aufregend zu bezeichnen). Wenn man eine Departement-Grenze überschreitet, wird es kompliziert, vor allem was die öffentlichen Verkehrsmittel betrifft. Die sonst sehr kompetenten Mitarbeiter im Touristenbüro taten sich schwer darin, Abfahrtszeiten und Busse ausfindig zu machen, die über die Grenze und im Nachbar-Departement fahren. Schließlich bekam ich doch den allerletzten Bus vor den Großen Ferien Richtung Osten bis kurz vor der Grenze. Es war ein Minibus für sieben Personen. Wir waren zu viert, von denen der Fahrer drei persönlich kannte. Der Ausblick war atemberaubend. Es ging auf kurviger Route in die Berge hinein, durch Schluchten hindurch, türkisblaue Bergflüsse, Olivenhaine, Wälder, Lavendelfelder. In Rémuzat musste es per Anhalter weitergehen. Und es ging. Nach zwei Minuten Wartezeit hielt eine deutsche Familie aus Oldenburg, mit einer vier- oder fünfjährigen Tochter. Sie nahmen mich mit, brachten mich gewissermaßen über die Grenze. Sie machten sogar einen Umweg, um mich direkt in das Dörfchen Saint-André-de-Rosans zu bringen. Ich lief dann noch zehn Minuten, umgeben von Bergen, Weizenfeldern, Pinien und Kühen eine kleine verlassene Landstraße bis zur Pension. Ziemlich abgelegen. JWD. Herrlich.

Pension und Betreiber. Christine und Gilles hatten sich dort ihr Häuschen von anno 1820 renoviert und ausgebaut. Das Gästehaus, das Gilles gerade baute, und eine Jurte werden Gäste beherbergen. So kam ich in den Genuss, im großen Haus zu residieren, mit Blick auf bewaldete Berge, Felder, entfernte Höfe. Steinhaus, helles Holz, Holzdielen. Die Innenausstattung mit Liebe zum Detail gestaltet: Verzierungen aus Stein, farbigen Kacheln, Mosaike, Türen mit Gräsereinfassungen, allerlei Accessoires aus der Natur. Gilles legte auf dem immensen Grundstück Permakultur-Beete an, die Wasser wie ein Schwamm speichern und darum sehr geeignet für die trockene Gegend sind. Pflanzen filtern das Brauchwasser komplett in einer Bio-Kläranlage.

Beim Frühstück erzählten beide von ihrem Haus, dem Garten, wie sie sich kennenlernten. Sie stammen aus dem Savoie (bei der italienischen Grenze). Gilles stammt aus Lyon, lebte dort 35 Jahre, zog dann ins Savoie, lebte dort 20 Jahre, traf dort Christine, dann zogen beide in die Hohen Alpen. Sie hat zwei Kinder, er drei, und Enkelkinder gibt es auch. Er ist 14 Jahre älter als sie. Er war Friseur und sie seine Kundin. Beide glauben an die Energie des Universums. Christine vollzieht ein Ritual, wenn sie sich etwas wünscht, wenn sie nach einer bestimmten Sache auf der Suche ist. Sie schreibt konkrete Merkmale, sei es die ihres zukünftigen Partners oder die ihres zukünftigen Grundstückes, auf einen Zettel. Dann verbrennt sie das Papier und lässt den Wunsch ziehen. Ihrer Überzeugung nach geht er in Erfüllung, kommt das Vorgestellte von allein zu ihr, quasi vom Universum geschickt. Viele Gedanken können ins Bewusstsein kommen. Man solle sie vorbeiziehen lassen und sich nicht von seinem Ziel, seinem Weg abbringen lassen. Per se kein übler Rat. Mich erinnert das auch in gewissem Maße an das positive Denken. Dem ich wiederum ein wenig kritisch gegenüber stehen. Aber vielleicht sollte ich das mal mit dem Ritual versuchen? Christine bietet Meditationen für Gruppen an. Sie führte mich durch eine Intuitions-Meditation. Ich machte eine innere Reise zu einem Wunschort, und stellte mir zugleich meine Wunscharbeit vor. Ich mache Fortschritte.

 

Das Dorf und Land und Leute. Abends picknickte ich an einer Weggabelung gerade vorm Ortseingang von Saint André auf einer Steinbank, bei sich senkender Sonne, Olivenbrot, Gurke, Ziegenkäse, Tapinade aus schwarzen Oliven und Tomaten und Aprikosen. Saint-André-de-Rosans ist ein winziges mittelalterliches Dorf mit 60 Bewohnern und relativ vielen Gästezimmern. Der Ort war ehemals ein bedeutendes religiöses Zentrum. Die Ruinen der Prieuré (Priorei) aus dem 10. Jahrhundert stehen noch. Im Dorf begrüßt man sich fast immer, wenn man sich auf der Straße begegnet. Auch den Besuchern wünscht man Bonjour. Die Alten wie die Jungen spielen Petanque rund um den Dorfplatz, an dem sich Rathaus, Auberge, Brunnen und vier mächtige Platanen versammeln. Kinder, Jugendliche spielen und treffen sich hier. Ab und an fuhr die Bürgermeisterin und Landwirtin mit schwerem Landwirtschaftsfahrzeug vorbei, einen Ballen Stroh geladen.

Die regionale Tageszeitung Le dauphiné libéré für Hautes-Alpes, Alpes-de-Haute-Provence berichtet über den beginnenden Almauftrieb und das Leben der Schäfer, über ihre Wut auf die Wolf-Abschussquote, denn sie erlaubt nicht mehr, nun während des Almauf- und abtriebs sich und die Schafe vor Angriffen zu schützen, über die Eröffnung eines Hypermarchés (ein Super-Supermarkt) als Bedrohung für den lokalen Einzelhandel, die Krise der Oliven-Wirtschaft. Künstlervereinigungen, große und kleine Konzerte, Vorlesen in der Bibliothek und Kochkurse mit Kindern, einen Mordprozess, bei dem die Mörderin aus Eifersucht zu 30 Jahren verurteilt wird, einen Geschichtsverein, dessen Mitglieder die traditionelle Nussöl-Herstellung weitergeben. Und über die nationalen Ereignisse und Probleme wie über das ambitionierte Klimaschutzplan des Umweltministers oder die desaströse Unterbringung von Flüchtlingen in Paris, Calais und an der französisch-italienischen Grenze sowie eine weitere Verlängerung des Ausnahmezustandes aufgrund der Terrorattentate.

 

 

Der Ausflug nach Rosans, dem nächst größeren Dorf, startete rasant mit einem Mountainbike, stets bergab. Und endetet rasch, als die Kette beim ersten Versuch, in einen höheren Gang zu schalten, vom Zahnrad sprang. Unfähig, diese einfache Reparatur auszuführen, hieß es: schieben in praller Sonne bei 30 °C. Schuhe klebten an Teerstücken fest, die sich zu verflüssigen begannen. Gut durchgebraten erreichte ich nach anderthalb Stunden das Mittelalter-Örtchen, in dem außer dem Café am Platze alle Museen und Ausstellungen geschlossen hatten. Egal. Zu etwas anderem als hechelnd im Schatten Kaffee zu trinken, hätte die Kraft nicht gereicht. Doch, ein paar Fotos waren noch drin.

 

 

Naturlandschaft. Obwohl ich dem Meer eher zugeneigt bin, übte die Berglandschaft doch einen Zauber auf mich aus. Ich überraschte mich hier täglich aufs Neue. Sandsteinfelsen, unterschiedlichste kunterbunte Schmetterlinge, die weiße, einheimische Kuhrasse Charolais, Geier, Hirsche, Rehe, Dachse, die die Erdbeeren naschen, Siebenschläfer, die gerne die Hausdämmung anfressen und von der Katze des Hauses gejagt werden. Im Dorf und allerorts Stockrosen. In der Dämmerung rasen Hasen über die Wiesen. Es brummt und zirpt und sirrt und rauscht und raschelt und tropft und muht und bimmelt und plätschert und summt. Die Ruhe – die Geräusche der Natur waren für mich Ruhe – lädt zum Schreiben ein. So zog ich mich in mein Zimmer und das Schreiber-Kabuff zurück und veröffentlichte meinen ersten Blog-Eintrag, währenddessen Wein aus der Region genießend. Einmal blieb ich auf ein Weinchen länger in der Auberge. Der Rückweg im Dunkeln wurde vom Vollmond erleuchtet. Ich versuchte, keine Angst vor der tagsüber so freundlichen Natur aufkommen zu lassen. Beschwipst singend und vor mich her brabbelnd gelang das recht gut. Ein Pferd erschrak sich vor mir, bevor ich mich vor ihm erschrecken konnte.

 

Die Auberge. Die Leute der Auberge sind freundlich, warmherzig, unkompliziert. Die zarte, zurückhaltende und doch gesprächige Rosa gab mir einen Wein aus. Sie verbringt den Sommer nach dem Abschluss ihres Theaterstudiums und hilft ihrem Bruder Robin und dessen Frau Maelle im Restaurant. Der Chef ist auch der Koch, hat Dreads, ist sonst ziemlich alternativ. Ihr kleiner Sohn Émile tapste munter durch die Gegend. Die Geschwister (Mitte 30) sind zweisprachig aufgewachsen, die Mutter Engländerin, der Vater Italiener. Auch die Mutter lebte im Dorf. Vor Ort sprechen die drei natürlich französisch. An diesem romantischen Örtchen wurde übrigens der noch romantischere Film Le fils de l’épicier (Der fliegende Händler) gedreht. Das sagt eigentlich schon alles.

Etappe 4 – Nyons

4. bis 6. Juli 2017, Nyons, Hotel

Es war erbarmungslos schön hier. Anders lässt es sich nicht sagen. Alle Klischees über die Provence bewahrheiteten sich mit jedem Tag von neuem. Lichtumluftet schlenderte ich durch verschlungene Gassen, umgeben von niedrigen, alten, krummen Häusern. Katzen lagen auf den Mauern. Kleine Eidechsen flüchteten vor meinen beschwingten Schritten in die nächste Ritze. Das Hotel war ok, die Besitzerin hingegen erbarmungslos mufflig. Gut zu wissen, man kann also auch in der Provence schlechte Laune haben.

 

Wir befinden uns noch immer im Departement Drôme, auch Baronnies provençales genannt, aber schon in der Region Auvergne-Rhône-Alpes. Das kleine Städtchen zählt 6600 Einwohner. Nyons ist umgeben von bewaldeten Hügeln und dem typischen Strauchbewuchs. Die südlichen Voralpen liegen vor der Haustür, zwei Gebirgsachsen laufen hier zusammen: die Nord-Süd-Achse von Vercors und die Ost-West-Achse der Provence. Das Land ist von niedriger und mittlerer Höhe. Der höchste Berg ist etwa 1400 Meter hoch. Kalkstein und Mergel bestimmen das Gesteinsbild.

Die mediterrane Vegetation bietet außerdem Lorbeer, Feigenbäume, Olivenbäume, Aprikosen, dazu wilde Pfingstrosen und Orchideen. Es soll Gemsen, Biber, Geier, Königsadler, Fledermäusse (zumindest das kann ich bezeugen) und allerlei Reptilien-Getier geben.

Die Region ist bekannt für seine schwarzen Oliven und die Herstellung von hochwertigem Olivenöl. Die milde feine Olivensorte Tanche wird als schwarze Olive von November bis Februar geerntet. Den Olivenbaum gibt es seit über 9000 Jahren im Mittelmeerraum. Ursprünglich beheimatet in Syrien hat der Mensch ihn im gesamten Gebiet um das Mittelmeer verbreitet und kultiviert. Der Olivenbaum ist genügsam, er wächst auf sandigem, kalkreichen Boden. Er braucht viel Wärme, aber nur wenig Wasser.

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Ein Tag begann mit Shopping: Der Sommerschlussverkauf lockte auch hier. So probierte ich an. Erfolglos begab ich mich zum zweiten wichtigen Tagesordnungspunkt, dem Frühstücks-Capuccino, gegen Mittag. Ein Café-Restaurant, das auch von Einheimischen frequentiert wird. Dazu gab es Lektüre der regionalen Tageszeitung Le Tribunal. Regionalpolitik zu Querulenzen um ein Flughafen-Projekt mit angebundenen Industriegebiet (selbst in der Provinz gibt es einen Problem-Flughafen), unerbittliche Konflikte zwischen Landwirten, die Schädlingen mit Pestiziden zu Leibe rücken und Umweltschützern, die Bienen und andere Insekten vor Vergiftung bewahren wollen. Artikel zu unzähligen Konzerten von lokalen und überregionalen Bands, Sportevents von Radsport- über Kanu- bis Petanque-Wettbewerben. Bekanntmachungen von Hochzeiten und Verabschiedungen von zukünftigen Pensionären in wichtigen oder weniger wichtigen Positionen fehlten auch nicht. Das volle Leben auf dem Land.

Die Franzosen nahmen derweil ihr Mittagsmenü ein. Hier gilt noch für alle Geschäfte die Mittagspause (la sieste) von 13 bis 15 Uhr. Ich nahm mein Stück Pizza und ein Pain au chocolat am Fluss Eygrues zu mir. Eine Einheimische nutzte ihre Mittagspause für ein Sonnenbad auf den Steinen des Flussbettes.

 

Gestärkt ging es zur Distillerie Bleu (Blau), die ätherische Öle unter anderem von Thymian, Rosmarin und aktuell von Lavendel herstellt. Bei der Führung der Besitzerin, umgeben vom beruhigenden herben Geruch des Lavendels, erfuhr ich einiges über Geschichte und Herstellung dieses Familienunternehmens, gegründet in 1930er Jahren. In den 1990er Jahren zurückgekauft, setzten die Kinder die Produktion fort. Die Manufaktur wurde nach EU-Vorgaben umgebaut. Die Dampfbehälter mussten sich über der Erde befinden, also nicht, wie traditionell üblich, im Keller.

Von DEM Lavendel zu sprechen, ist allerdings die verkürzte Variante. Denn es gibt drei Lavendelarten, zumindest in der Provence. Der echte oder feine Lavendel wird meist für Düfte und Parfums verwendet. Er ist die edelste und teuerste Art. Die Pflanze wächst in 500 bis 1500 Metern Höhe. Der Speick-Lavendel gedeiht schon auf Höhen von 300 bis 600 Metern.

Und schließlich der Lavandin: ein natürlicher Hybrid aus den beiden Sorten. Es ist vor allem dieser, der das (Postkarten-)Bild von der blauen Provence prägt, da man ihn industriell seit Anfang des 20. Jahrhunderts auf großen Feldern anbaut. Quantitativ gibt er mehr her, seine Duft-Qualität ist eher mittelmäßig. Das auch immer die romantischsten Vorstellungen gemeine Kratzer bekommen müssen. Die Drôme im Ganzen ist ein wichtiger Produzent von Pflanzen wie Rosmarin, Lavendel, Salbei und Eukalyptus für Düfte und für medizinische Zwecke.

 

Noch tiefenentspannter als eh schlenderte ich danach ein Weilchen durch die Altstadt und kaufte die Ingredienzen für mein Abendbrot zusammen. Dann begab ich mich auf einen Hügel über der Stadt. Nach einer kurzen gefahrenvollen Wanderung auf steinigem, steilem Weg fand ich das perfekte Plätzchen, um dort bei Sonnenuntergang mit Baguette, Ziegenkäse, Gurke und Aprikose diesen anstrengenden Tag gebührend zu verabschieden. Es ist übrigens Aprikosen-Zeit, überall kann man sie an kleinen Ständen kaufen, die Obstbaumplantagen im Umland hängen voll der süßen Früchte. Ich entledigte mich meiner lang gepflegten Aprikosen-Abneigung – man soll sich schließlich den lokalen Gepflogenheiten öffnen. Es war zu meinem Schaden nicht.

 

Auf einem meiner Spaziergänge durch die Altstadt stieg ich das verwinkelte Gassenlabyrinth zu einem alten Turm aus dem 13. Jahrhundert hinauf, um eine Zigarette zu genießen, drangen unerwartet heimatliche Klänge in mein Ohr. Eine junge Frau spann mit ihrem Sohn eine Superhelden-Geschichte, auf Sächsisch. Nachdem ein freundlicher alter Herr, der gerade seine Blumen goss, jedem von uns Aprikosen von seinem Baum schenkte, sprach ich sie an. Wir teilten uns meinen Wein und sprachen über dies und das, Urlaubserfahrungen und … die Arbeit. Ja, die Arbeit ist auch unter der südlichen Sonne nie weit entfernt. Wenigstens die Gedanken daran. Manu und Till (7 Jahre) aus Dresden, und gebürtige Leipziger, erkundeten für zwei Wochen auch den Süden.

Sie hat BWL studiert und arbeitete seit sechs Jahren in einer Tischlerei in Dresden, auch und vornehmlich Kommunikationsprobleme mit den Chefs und mit älteren Mitarbeitern, im Umbruch, wir machten uns Luft über den Büroalltag, irgendwie auslaugend, und wenig belebende Einflüsse böte er. Darum entschied sie, eine Ausbildung zur Yogalehrerin zu beginnen. Nun, die zündende Idee für eine Alternative meinerseits fehlt noch. … Ein sehr nette Begegnung.

Etappe 3 – Montélimar

2. bis 4. Juli 2017, Montélimar, bei meiner zweiten Couchsurfing-Gastgeberin Catherine

Der Mistral bläst, bläst die Schatten Montélimars durcheinander. Die mittelgroße Stadt liegt im Departement Drôme. Sie ist die etwas unspektakuläre, aber die mit etwa 37 000 Einwohnern größere Stadt der Region Auvergne-Rhônes-Alpes. Westlich fließt die Rhône vorbei. Die Drôme bekommt den Zusatz „provenzalisch“, wohl aus Tourismus fördernden Überlegungen heraus. Die Stadt liegt sozusagen am Tor zur Provence.

Auch diese Stadt begrüßt mich mit Musik, diesmal brasilianische Lieder und Bossa Nova. Jeden Sonntag wird ein kostenloses Open Air Konzert im Pavillon des Jardin public geboten.

Catherine lebt ein paar Minuten entfernt vom Bahnhof in einem wohlhabenden Viertel mit alten Häusern und großen Gärten. Ihr altes Haus ist ein Kleinod. Versteckt hinter Mauern eröffnet sich ein herrlicher Garten. Da wachsen Palmen, ein Olivenbaum, Sträucher und Rosen. Von der Nachbarin ragen Zweige eines Feigenbaumes über die Mauer. Sie pflückt die Früchte heimlich auf ihrer Seite. Später wird sich in der Dunkelheit ein kleiner, aber eindrucksvoller Skorpion zeigen, den Catherine sogleich abmurkste – sie zerdrückte ihn mit einem Stein an der Hauswand. Er sei zwar harmlos, aber trotzdem nicht willkommen.

Auch hier durfte ich mich an mehrgängigen Abendessen laben. Zum Aperitif gab es Muscat (ein von Natur aus süßer Wein) und Melone, der Hauptgang war Ratatouille mit Feigen, Fleisch vom Lamm dazu. Eine Käseplatte folgte. Zum Nachtisch gab es frische Feigen oder Veilchen-Eis.

Ich wurde nahtlos in den Tagesablauf integriert. So holten wir zwischen Hauptgang und Nachtisch einen alten Holztisch von einer älteren Dame ab, den Catherine für ihre Kinder erstanden hatte. Pragmatisch und etwas abenteuerlich hing der Tisch zur Hälfte aus dem Kofferraum des kleinen Autos, verzurrt mit einem kräftigem Seil. Was nicht alles geht.

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Sie ist Psychomotricienne für Kinder. Sie ist 58 Jahre alt und hat selbst zwei Kinder (Paul, 25, und Lucie, 28), ist geschieden, reist gern und gerne ohne großen Plan. Wir unterhielten uns sehr gut über verschiedene Themen, über ihre Familie, ihr Erfahrungen mit Couchsurfing, über Frankreich. Sie fühlt sich ihrer Region nicht besonders verbunden. Sie sei per Zufall Französin und wisse, dass sie Glück habe. Ihre Tochter hatte einen Rumänen zum Freund. Er hatte in Frankreich große Probleme mit seiner Herkunft, sodass er, selbst mit exzellenten Sprachkenntnissen und einer angesehenen Arbeit, irgendwann auf die Frage, woher er käme, seine Herkunft verschwieg. Er käme aus einem nordischen Land. Das Leben in Rumänien sei hart, wenig Arbeit, viel Armut, kein Raum für Kunst, ein Staat, der kaum in Bildung investiert.

Das schöne Orange mochte sie nicht: Eine Front National Stadt sei das. Migranten (besonders Araber) und Homosexuelle hätten dort einen schweren Stand. Vor allem bis vor wenigen Jahren, als noch Fremdenlegionäre stationiert waren. Ehemalige Gefangene und Kriminelle, die Immunität durch die Anstellung für das französische Militär genießen. Harte, rohe, gewalttätige Männer, die eine unangenehme Stimmung in der Stadt verbreiteten. Außerdem seien die Orangois im Allgemeinen nicht sehr gebildet. Was eine kleine Anekdote aus dem Buchladen in Orange ins recht Licht rückt: Eine ältere Dame suchte für einen Freund ein Geschenk. Auf die Frage des Buchhändlers, was ihn denn interessiere, erwiderte sie, er lese kaum, liebe die Jagd, sei sonst nicht besonders intellektuell. Nun, eine Spezialität vom Fleischer wäre vielleicht angebrachter gewesen.

Montélimar hat eine Fahrradspur auf einem Stück Straße zu bieten. Fahrradfreundlich ist wohl keine der südfranzösischen Städte. Wozu sollte das auch gut sein? Die ignorante Stadtverwaltung hat die schmale Spur nur auf das Drängen einer Elterninitiative einrichten lassen, für die Schüler eines Gymnasiums.

Etwas Schönes hat Montélimar aber doch zu bieten. Es ist die traditionelle Stadt des weißen Nougat. Ich erstand in einer der dutzend noch heute produzierenden traditionellen Manufakturen eine große Tüte der Süßigkeit aus Zucker, Honig, Pistazien, Eiweiß und Vanille.

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Ganz untraditionell überraschte das Museum für zeitgenössische Kunst mit einer Pop Art Ausstellung (1960er bis zur Gegenwart): Originale Bilder und Objekte von Andy Warhol, Keith Haring, Jean-Michel Basquiat, KRM, 2ynss, polnische Künstlergruppe Lodz Kaliska, Frédéric Bouffandeau, Richard Olinski. Die Bilder von KRM hatten etwas ziemlich Interessantes.

Ich zitiere meine Gastgeberin: Montélimar wartet nicht mit außergewöhnlich Sehenswertem auf, dafür ist sie der Ausgangspunkt zu vielen hübschen Städten und Gegenden in der Auvergne und der Provence.

 

Etappe 2 – Orange

29. Juni bis 2. Juli 2017, Orange, Hotel

Mit 13 Kilo Gepäck auf dem Rücken, natürlich sind viel zu viele viel zu warme Strickjacken und Pullover dabei, und mit einem weiteren kleinen, aber schweren Rucksack kämpfe ich mich von Oranges Bahnhof zum Hotel. Auf dem Weg nehme ich nur schleierhaft die riesige Steinmauer wahr, und frage mich noch, wer so ‚was Sinnloses wohl in die Landschaft baut. Etwas später, erfrischt und satt, erfahre ich durch Touri-Broschüren und Info-Tafeln, dass es das größte römisch-antike Theater Europas war. Das besterhaltene Steintheater des westlichen Römischen Reiches, im 1. Jahrhundert n. Chr. erbaut. Die Besonderheit ist die noch existente äußere Theatermauer, 103 Meter lang, 37 Meter hoch. Ach so. Dieses beeindruckende Gebäude steht also in der alten Römerstadt, ursprünglich Arausio, die Augustus im 1. Jahrhundert v. Chr. gegründet hatte.

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Ich bleibe gleich bei der altehrwürdigen Geschichte. Es gibt ein mächtiges Bogentor, ein bedeutendes Bauwerk der provenzalisch-römischen Kunst. Der Bogen auf der Straße von Agrippa wurde zum Ruhm den Stadtgründern der römischen Kolonie Orange geweiht. Die Darstellung von gallischen Gefangenen symbolisiert die Herrschaft Roms. Aller guten Dinge sind drei: Was mich hat staunen lassen, waren die römisches Kadaster. Mit diesem System konnte man Ländereien gerecht aufteilen und Steuern erheben. In Mamor eingraviert sind diese drei erhaltenen Kadaster einzigartig in der römischen Welt. Andere Schätze und Statuen wie das geflügelte Wesen beherbergte das Museum.

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Heute liegt Orange im Departement Vaucluse und hat etwa 30 000 Bewohner. Nicht weit entfernt erhebt sich der Mont Ventoux, 1900 Meter hoch, Teil der provenzalischen Voralpen. Der „windige Berg“ ist einer der drei heiligen Berge der Provence. Wenn man den Hügel Saint Eutrope erklimmt, kann man das alles überschauen.

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Beim Bummeln blieb ich in einer Buchhandlung hängen, um meine Kenntnisse aufzufrischen. Ganz Frankreich teilt sich in zwei große Sprachgebiete: die Langue d’oil, also das Altfranzösische, im Norden, und die Langue d’oc im Süden. Hier sprach man Okzitanisch. Das Provenzalische ist einer der vielen Dialekte im Gebiet der Langue d’oc. Es teilt sich wiederum in vier Dialekte auf: das Rhodanische, das Nissart, das maritime Provenzalische (um Marseille) und das Alpinprovenzalische. Kaum noch jemand spricht diese Dialekte, vielleicht ein paar ältere Leute. Was man aber hier hört, ist die südliche Aussprache von bien [biäng] und demain [demäng].

Brunnen plätschern, Franzosen plaudern. Weißhäupter überall, ältere Herrschaften, Pärchen mittleren Alters, gutbetucht. Natürlich Touristen. Die Einheimischen, selbst die älteren, sind äußerst geschmackvoll gekleidet, farbenfroh, viel Schmuck, schicke Schuhe (oft mit Absatz und Keilabsatz), schlanke Figuren. Gutgelaunt sind die Leute. Man kennt und trifft sich im Café. Bei einem Kaffee oder einem Weißwein am Nachmittag plaudern und lachen sie.

Um eine abgenutzte Redewendung einzuwerfen: Wie Gott in Frankreich. Oder königlich. So fühlte sich es an, unter der Sonne zu wandeln, die heiße Haut gekühlt vom provenzalischen Wind, Zikaden schnarren wieder ohrenbetäubend. Allein die römischen Mauern und Gebäude beim Frühstückskaffee im Café du Théâtre vor Augen zu haben, war vorerst ungreifbar. 2000 Jahre stehen sie dort. Ein paar Meter vom Antiken Theater entfernt mahnt ein halbfertiges Haus, dass unser eins in diesem und dem vorhergehenden Jahrhundert Probleme hat, Pläne umzusetzen, damit etwas von Beständigkeit bleibt. In diesem besonderen Falle, in dieser Stadt, wird vor allem den Sozialisten die Schuld gegeben. Damit das auch ja niemand vergisst, brachte die aktuelle Regierung ein Schild an. Man hofft, dieses habe lange Bestand. Man wählt hier rechtskonservativ bis nationalistisch. Es gab auch schon einen Bürgermeister der Rechten. Bei all der Schönheit vergisst man das leicht.

 

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Zurück zum königlichen Gefühl. Mein Zimmer ist mit Polstersessel und Polsterbett in royalem Stil ausgestattet. Selbst die Toilette steht auf einem Sockel. Man sitzt darauf gleichsam wie auf einem Thron und kann die Beine baumeln lassen. Wen das stört, ziehe wesentlich unroyaler den Mülleimer als Fußstütze heran.

 

 

Beim Essen hielt ich mich vornehm zurück: Zum Picknick auf einer Bank oder einer Steintreppe gab es Baguette, den billigsten Camembert aus dem Angebot, eine Tomate, etwas Obst. Ein Eis darf’s dennoch zwischendurch sein (Karamell mit gesalzener Butter).

Musik ist abends allgegenwärtig. Ich habe königliches Glück: Eine Open Air Jazz Festival vor dem Hôtel de ville. Ein Pop-Rock-Konzert auf dem Platz genau neben meinem Hotel, für oder vom Restaurant gebucht. Eine Opernprobe im antiken Theater für Museumsbesucher gleich inklusive. Selbst ein hartgesottener Opernignorant wie ich es bin, kann sich dieser Wirkung kaum entziehen. Mächtige Stimmen dreier Sänger ohne Verstärker, mit Klavierbegleitung, tönten klar über die 7000 Plätze. Tiefer Bass, Sopran, ein schöner Klang, der mir den Mund offen stehen ließ.

Am letzten Abend hörte ich ein super Konzert der Band Charlie and the Soap Opera. Energetischer Funk, Soul, Rock. Man musste tanzen, das war unausweichlich. Selbst die Weißhäupter ließen sich beim letzten Song dazu bewegen, von ihren Stühlen aufzustehen und die Hüften zu schwingen.

Es freute mich, von Musik umgeben zu sein. Mittlerweile wirbelte der aufkommende Mistral durchs Haar und ließ die Menschen ihre Strickjacken enger um den Körper schlingen. Wolken zogen unter Wolken schnell dahin. Und so verließ ich beschwingt, mit dem Wind im Rücken diesen geschichtsträchtigen, verdammt schönen Ort weiter Richtung Norden.